
„In der Salamitaktik der israelischen Regierung liegt die eigentliche Gefahr“

Am 24. Juli 2023 hat die Knesset, das israelische Parlament, ein entscheidendes Gesetz zum Umbau der Justiz verabschiedet, das unter anderem vorsieht, dass der Supreme Court die Angemessenheit („Reasonableness“) von Entscheidungen der Regierung nicht mehr überprüfen darf. Am 12. September 2023 wird sich der Supreme Court mit Petitionen gegen dieses Gesetz befassen. Wie wird diese Auseinandersetzung weitergehen?
Fragen an Elmar Esser, 1. Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung (DIJV), der im Kammerton 5/2023 die Gesetzgebungspläne der israelischen Regierung im Detail beschrieben hat.
Kammerton: Der umfassende Protest gegen die Justizreform hält auch nach dem Beschluss der Knesset vom 24. Juli 2023 an. Auf LTO haben Sie am 03.08.2023 beschrieben, dass die israelische Regierung weiter an der Schwächung rechtsstaatlicher Strukturen arbeite. Hat die Ankündigung der Reservisten des Militärs, bei einer Verabschiedung des Gesetzes nicht mehr zum Dienst anzutreten, keine Auswirkungen?
RA Esser: Die Auswirkungen, die ein Fernbleiben der freiwillig Reservedienstleistenden haben könnte, sind aktuell in ihrer Tragweite noch nicht absehbar. Klar ist aber, dass die Verteidigungsfähigkeit Israels maßgeblich auch auf der Bereitschaft von freiwilligen Reservisten zum regelmäßigen Dienst beruht. Ersten Meldungen in israelischen Medien zufolge sind einzelne Einheiten davon bereits stärker betroffen. So leisten gerade in bestimmten hochqualifizierten Einheiten von Luftwaffe und der Intelligence, die darauf angewiesen sind, viele Reservisten oftmals einen Tag pro Woche Dienst. Die militärische Führung hat zunächst zurückhaltend reagiert und verzichtet bisher auf disziplinarische oder strafrechtliche Maßnahmen. Ein Abweichen der Regierung von ihren Plänen aufgrund dieser Entwicklung lässt sich derzeit nicht erkennen. Doch der Schwelbrand wird so nicht zu stoppen sein.
In Ihrem Beitrag auf LTO vom 26.07.2023 haben Sie darauf hingewiesen, dass durch das Gesetz vom 24.07.2023 der Supreme Court nicht völlig entmachtet werde. Sind die Befürchtungen der Kritikerinnen und Kritiker der Justizreform übertrieben?
Natürlich muss man die Befürchtungen ernst nehmen. Aber es ist eben nicht so, dass der Supreme Court allein aufgrund dieses Gesetzes jeglicher Möglichkeiten zum Einschreiten gegen missbräuchliches oder willkürliches Handeln von Regierung und Exekutive beraubt würde. Das Gesetz vom 24.7.2023 nimmt für sich allein gesehen dem Supreme Court „nur“ einen Prüfungsmaßstab, nämlich den, ob eine Entscheidung der Exekutive „unreasonable“ ist. Der Supreme Court wird aber nicht völlig entmachtet. Vielmehr gibt es ernstzunehmende Stimmen, die davon ausgehen, dass das Gericht nach wie vor aus anderen Gründen eine Entscheidung der Regierung aufheben kann, etwa wegen Rechtswidrigkeit, wegen eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Grundsätze oder gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Verwaltung.
Klar zu erkennen ist aber ein geändertes Vorgehen der Regierung gegenüber Anfang des Jahres. Statt mit der Dampfwalze juristische Standards auf einen Schlag abschaffen zu wollen, wählt man nun die Salamitaktik. Und darin liegt die eigentliche Gefahr.
Von den Kollegen der Israel Bar, die eine der Klagen gegen das Gesetz vom 24. Juli 2023 erhoben haben, wird die Sorge geäußert, dass die Regierung aufgrund des neuen Gesetzes noch viel radikalere Entscheidungen treffen könnte. Erste derartige Ankündigungen hat es bereits unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes gegeben. Dies betrifft maßgeblich das Verfahren zur Wahl von Richtern an allen israelischen Gerichten. Die hierfür zuständige Richterwahlkommission will die Regierung unbedingt unter ihre Kontrolle bringen. Und man hört immer wieder Forderungen, nun zur Tat zu schreiten und z.B. die Generalstaatsanwältin zu entlassen. Sie gilt vielen in der Koalition mittlerweile als unliebsamer Gatekeeper der Verfassung, weil sie sich den Plänen der Regierung kraft ihres Amtes entgegenstellt.
Welche Situation könnte entstehen, wenn der Supreme Court das Gesetz vom 24.07.2023 aufhebt?
Es droht in diesem Fall eine verfassungsrechtliche Krise, wie sie Israel und auch andere westliche Demokratien noch nicht erlebt haben. Premierminister Netanjahu war in einem Interview mit CNN nach der Verabschiedung des Gesetzes trotz ausdrücklicher Nachfrage nicht zu einer Aussage bereit, wonach die Regierung eine solche Entscheidung akzeptierte.
Erste Überlegungen, dem Supreme Court durch ein Basic Law die Verwerfungskompetenz in Bezug auf Gesetze im verfassungsrechtlichen Rang zu nehmen, werden in der Koalition bereits diskutiert.
Nach den Plänen der Regierung soll die nationale Anwaltskammer, die Israel Bar Association, durch einen vom Justizministerium eingesetzten Anwaltsrat ersetzt werden, der dann auch für die Zulassung zur Anwaltschaft zuständig wäre. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat hiergegen scharf protestiert, da die Unabhängigkeit und die Freiheit des Anwaltsberufs in Gefahr sei. Die RAK Berlin hat gegenüber der Tel Aviv Bar ihre Unterstützung erklärt. Werden diese Pläne und das Vorhaben, die Vertreter der Israel Bar aus dem Richterwahlausschuss zu entfernen, bald umgesetzt?
Der Gesetzentwurf, mit dem die Selbstverwaltung der Anwaltschaft abgeschafft werden soll, ist als unmittelbare Reaktion der rechtsgerichteten Koalition auf die Wahlen in der Israel Bar im Juni zu verstehen. Damals wurde mit Amit Becher, bis dahin Präsident der Tel Aviv Bar, ein erklärter Gegner der Pläne der Regierung mit sehr großer Mehrheit direkt von den Mitgliedern gewählt. Und auch im neu gewählten National Council der Israel Bar stellen die Befürworter der Pläne nur noch eine kleine Minderheit dar.
Der Koalition ist dies naturgemäß ein Dorn im Auge, und so gehe ich davon aus, dass man die Pläne aktiv weiter vorantreiben wird, wenn die Knesset ab Mitte Oktober ihre Wintersitzungsphase beginnt. Ersichtlich ist diese Koalition darauf aus, Institutionen wie die Israel Bar ihrer Unabhängigkeit zu berauben. Auf Schildern, die bei den wöchentlichen Demonstrationen in Israel getragen werden, sieht man eine Jahreszahl, an die sich die Protestierenden in diesem Zusammenhang offensichtlich erinnert fühlen. Dies macht mich sehr betroffen.
Wir können uns denken, welche Jahreszahl Sie meinen. Ist zu erwarten, dass die jetzige Regierung angesichts ihrer kompromisslosen Durchsetzung der Justizreform nicht wiedergewählt wird? Könnte in diesem Fall eine neue Regierung die nun beschlossenen Änderungen wieder aufheben?
Nahezu täglich werden in Israel Umfragen veröffentlicht, wie die Koalition bei Wahlen heute abschneiden würde. Bei allen Umfragen zeigt sich, dass diese Koalition nicht mehr mit einer Mehrheit rechnen könnte. Allerdings heißt das nicht automatisch, dass die derzeitige Opposition, die zudem recht zersplittert ist, eine stabile Mehrheit erreichte. Sollte dies jedoch gelingen, so könnten grundsätzlich die beschlossenen Gesetze (in der Regel auch mit einfacher Mehrheit) wieder aufgehoben werden. Gerade im Hinblick auf das Richterwahlverfahren, das geändert werden soll, wären aber womöglich bereits Stellenbesetzungen erfolgt, insbesondere am Supreme Court, die irreversibel sein dürften.
Die Siedlungspolitik der israelischen Regierung hat die Auseinandersetzungen mit den Palästinenserinnen und Palästinensern verschärft. Wenden sich viele Demonstrantinnen und Demonstranten auch gegen diese Politik oder ist die Frage des Umgangs mit den Palästinensern ganz unabhängig von der Justizreform zu betrachten?
Der Umgang mit den Palästinensern, die Besetzung des Westjordanlandes, die seit 1967 andauert, und die Siedlungspolitik werden bisher, so mein Eindruck, von der Protestbewegung gegen die Pläne der Regierung zum Umbau des Justizsystems nur am Rande von einzelnen Gruppen thematisiert. Forderungen, im Falle des Erfolgs der Protestbewegung zugleich eine Lösung für diese auf Dauer unhaltbare Situation zu finden, werden zwar auch von prominenten Stimmen wie z.B. David Grossmann, erhoben. Aber ich glaube nicht, dass dies realistisch sein dürfte.
Sollte die deutsche Regierung die israelische Regierung hinsichtlich der Justizreform deutlicher kritisieren als bisher?
Das ist die Gretchenfrage, die sich viele stellen. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte bedarf es sicherlich eines besonderen Fingerspitzengefühls. Allerdings halte ich die Freundschaft beider Länder heutzutage für so belastbar, dass Kritik an einem Abbau demokratischer Standards in Israel auch von deutscher Seite geäußert werden darf. In welcher Form Kritik erfolgen könnte, kann die Bundesregierung sicherlich selbst am besten einschätzen. Persönlich aber bin ich der Meinung, dass Deutschland deutlicher werden sollte.
Wie reagiert die Deutsch-Israelische Juristenvereinigung auf diese Justizreform?
Wir haben die Entwicklung von Beginn an sehr aufmerksam verfolgt. Unser Hauptaugenmerk richten wir dabei zum einen darauf, über die Pläne der Regierung und deren mögliche Auswirkungen zu informieren. Gerade zu Anfang des Jahres wurde in den deutschen Medien aus unserer Sicht den Entwicklungen zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Das ist besser geworden. Wir haben zudem eine Reihe von Infoveranstaltungen mit Kolleginnen und Kollegen aus Israel durchgeführt, die auf breites Interesse gestoßen sind. Und wir haben uns zum anderen bereits im Januar in einer gemeinsamen Erklärung zusammen mit unserer israelischen Schwestervereinigung sehr kritisch mit den Plänen der Regierung auseinandergesetzt und darin gefordert, hiervon Abstand zu nehmen. Und im April haben wir gemeinsam mit der BRAK und der Präsidentin des BGH eine Delegationsreise nach Israel unternommen. Dabei haben wir uns in einer Reihe von Gesprächen mit Vertretern von Anwaltschaft, Justiz, Politik, Universitäten, Wirtschaft und Gesellschaft vor Ort ein Bild von aktuellen Lage verschafft.
Anlässlich unserer 27. Jahrestagung, die Ende Oktober in Israel stattfindet, wird Aharon Barak, der frühere Präsident des Supreme Court, die aktuelle Situation beleuchten. Die Bedeutung, die den Entwicklungen in Israel beigemessen wird, dürfte auch darin zum Ausdruck kommen, dass wir weitere hochkarätige Referenten gewinnen konnten. So z.B. den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, den Generalbundesanwalt, die israelische Generalstaatsanwältin, den Präsidenten des Bundessozialgerichts. Die hohe Zahl von Anmeldungen, die weiterhin möglich sind, ist für mich ein herausragendes Zeichen der Solidarität deutscher Juristinnen und Juristen mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen in diesen schweren Zeiten.