„Die Bedeutung der Rechtsanwaltschaft für den Rechtsstaat wird in Deutschland zunehmend geringer geschätzt“
Dr. Margarete von Galen verteidigt und berät bundesweit Unternehmen und Einzelpersonen auf dem Gebiet des Strafrechts und übernimmt die strafrechtliche Begleitung von unternehmensinternen Untersuchungen. Sie ist Richterin am Verfassungsgerichtshof Berlin, Mitglied des Ausschusses Europarecht der Bundesrechtsanwaltskammer, Mitglied des Ausschusses CSR und Compliance des Deutschen Anwaltvereins, Mitherausgeberin der NStZ und Mitautorin verschiedener strafrechtlicher Kommentare. Sie war langjähriges Mitglied im Strafrechtsausschuss des DAV.
Von 1999 bis 2011 war sie im Vorstand der Rechtsanwaltskammer Berlin und von 2004 bis 2009 deren Präsidentin.
Von 2018 bis 2020 war Dr. Margarete von Galen Vizepräsidentin des Council of Bars and Law Societies of Europe (CCBE). Seit Januar 2021 ist sie Präsidentin des CCBE.
Zu Beginn Ihrer Präsidentschaft haben Sie als Schwerpunkte Ihrer neuen Aufgabe die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheit genannt. Wie weit sind Sie in den ersten fünf Monaten Ihrer Amtszeit als Präsidentin des CCBE auf diesen Gebieten gekommen?
Zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit hat uns in den ersten Monaten vor allem die Zuarbeit zum diesjährigen Rechtsstaatsbericht beschäftigt. Seit 2020 legt die Kommission jährlich einen Rechtsstaatsbericht vor, in dem über den Stand der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten berichtet wird. U.a. ging es für den 2. Rechtsstaatsbericht darum, dass die Unabhängigkeit der Anwaltschaft mehr in den Blick genommen wird. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass zukünftig das Kriterium der Unabhängigkeit der Anwaltschaft in die Definition, was unter Rechtsstaatlichkeit zu verstehen ist, aufgenommen wird. Bislang hatte die Kommission sich auf die Unabhängigkeit der Justiz beschränkt. Dazu haben wir Gespräche geführt, mit Didier Reynders, dem Kommissar für Justiz und Rechtsstaatlichkeit, mit Juan Fernando López Aguilar, dem Vorsitzenden des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments sowie anderen Mitgliedern des Parlaments und der Kommission und entsprechende Vorschläge zur Vervollständigung der Definition gemacht. Wir werden sehen, ob wir erfolgreich waren – wenn nicht, werden wir uns weiter dafür einsetzen.
Das Thema Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht ist im europäischen Zusammenhang zurzeit vor allem mit dem Thema Geldwäschebekämpfung eng verbunden. Wir warten auf ein neues „Geldwäschepaket“ der Kommission, das Anfang Juli kommen soll. Im Vorfeld haben wir in informellen Gesprächen versucht, darauf hinzuwirken, dass nicht eine Europäische Staatliche Aufsichtsbehörde für die Anwaltschaft im Zusammenhang mit der Geldwäschebekämpfung eingerichtet wird und ich bin einigermaßen zuversichtlich, dass das jetzt nicht kommt.
Außerdem haben wir die anwaltliche Verschwiegenheit zum Gegenstand eines Projekts gemacht, für das wir drei Jahre ansetzen. Dieses Projekt wird sich damit befassen wird, wie wir die anwaltliche Verschwiegenheit für das digitale Zeitalter fit machen. Wir werden uns mit dem Regelungsbedarf, aber auch mit technischen Lösungen befassen, die es gewährleisten, dass die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht aufrechterhalten bleibt und nicht in der Schnelligkeit und Leichtigkeit des digitalen Austauschs und der digitalen Ermittlungen immer unbedeutender wird. Dies ist allerdings ein Projekt, was deutlich über meine Amtszeit hinausgehen wird, aber es ist jetzt angeschoben.
Als weiteres Ziel haben Sie den weltweiten Schutz der Verteidigerinnen und Verteidiger angegeben. Wie kann der CCBE hier etwas erreichen?
Dabei geht es darum, dass Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die sich für Menschenrechte einsetzen – also nicht unbedingt klassische Verteidigung im deutschen Sinne – weltweit Verfolgung, Behinderung, Gefängnisstrafen oder auch dem Verlust der Anwaltszulassung ausgesetzt sind. In diesem Zusammenhang besteht unsere kontinuierliche Aufgabe darin, dass wir Briefe an die zuständigen staatlichen Stellen im jeweiligen Land und die entsprechenden Botschaften in Brüssel schreiben, in denen wir auf die Einzelheiten des Falles eingehen und auffordern, die illegale Behandlung des Anwalts, der Anwältin zu beenden. Diese Briefe schicken wir zusätzlich an Schlüsselpersonen bei den Vereinten Nationen, dem Europarat und der Europäischen Kommission. So gewährleisten wir, dass die Einzelfälle jedenfalls öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Wir unterstützen die betroffene Einzelperson und hoffen natürlich damit etwas zu bewirken. Leider gibt es weltweit immer noch viel zu viele verfolgte Anwälte. Das zeigt sich schon an den Zahlen unserer Tätigkeit: zwischen 2010 und 2020 hat der CCBE mehr als 500 Briefe zur Unterstützung von verfolgten Anwälten in 85 Ländern geschrieben. Seit Beginn meiner Amtszeit Anfang 2021, also in weniger als sechs Monaten, habe ich 44 Briefe geschrieben, die Fälle in 18 verschiedenen Ländern betreffen. Dieses Problem betrifft ja leider auch Situationen „vor unserer Haustür“. In der Türkei sind nach unseren Kenntnissen mehr als 400 Anwälte zu langjährigen Haftstrafen – der Durchschnitt ist sieben Jahre – verurteilt worden. Die Entwicklung in Belarus ist sehr dramatisch. Aber auch in EU-Ländern wie Bulgarien, Polen, Rumänien oder Ungarn, gibt es Tendenzen, Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen mit ihren Mandanten zu identifizieren und Anwälte wegen der Vertretung einzelner Mandate unter Druck zu setzen. In Polen ist es in dieser Konstellation auch zu der Verhaftung eines Rechtsanwalts gekommen.
Zusätzlich zu unseren Unterstützungsbriefen beteiligen wir uns an Initiativen von Nicht-Regierungs-Organisationen oder anderen Anwaltsverbänden zur Unterstützung von verfolgten Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen. Wichtig ist auch unser Menschenrechtspreis, den wir jedes Jahr in unserer Vollversammlung am Ende des Jahres – wenn die Pandemie es erlaubt, dieses Jahr am 10.12.2021 in Berlin – vergeben. Dieser Preis dient dazu, auf einzelne Schicksale und das Engagement Einzelner besonders aufmerksam zu machen. So haben wir im vergangenen Jahr sieben ägyptische Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen geehrt. Alle sieben konnten nicht an der Feier – im vergangenen Herbst natürlich online – teilnehmen, weil sie inhaftiert waren. Inhaftiert wegen ihres Einsatzes für ihre Mandanten und die Gewährleistung von Grundrechten in ihrem Heimatland.
Vor diesem Hintergrund setzt der CCBE sich sehr dafür ein, dass der Europarat eine Konvention für den Beruf der Rechtanwälte entwickelt und verabschiedet. Eine solche Konvention wäre ein bindendes Rechtsinstrument, das die Unabhängigkeit der anwaltlichen Tätigkeit rechtlich absichern würde und einklagbare Rechte, explizit für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen vorsehen würde. Der Europarat hat nach einer Machbarkeitsstudie, die die Mängel der vorhandenen – nicht bindenden – internationalen Rechtsinstrumente analysiert, eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Anfang 2022 ihre Arbeit aufnehmen wird und einen Vorschlag für ein entsprechendes Regelwerk erarbeiten soll. Es ist allerdings noch nicht entschieden, ob es am Ende das bindende Rechtsinstrument einer Konvention geben wird oder nur Empfehlungen. Der CCBE wird im Beobachterstatus an den Arbeiten der Kommission teilnehmen.
Darüber hinaus ist es für die Anwaltschaft in Europa ein sehr wichtiger Schritt, dass der CCBE am 18.06.2021 ein Memorandum of Understanding mit dem Europarat abgeschlossenen hat. Das MoU dient dem gemeinsamen Ziel, den Rechtsstaat zu stärken, die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, ihren Beruf frei und sicher auszuüben, zu fördern und das öffentliche Vertrauen in den Anwaltsberuf zu stärken. In dem Abkommen wird vereinbart, dass der CCBE sich jederzeit zu den die Rechtsstaatlichkeit und die Anwaltschaft betreffenden Fragen äußern, Zugang zu den erforderlichen Informationen und Dokumenten erhalten und an Arbeitsgruppen teilnehmen kann. Wir haben zwar auch bislang schon gute Beziehungen zum Europarat im Zusammenhang mit einzelnen Dossiers und Projekten. Mit diesem MoU wird jetzt eine dauerhafte Kooperation vereinbart. Dies ist ein großartiger Schritt für die Anwaltschaft und ein deutliches Signal an die Mitgliedstaaten, die Bedeutung der Anwaltschaft für den Rechtsstaat anzuerkennen und zu respektieren.
Ende April 2021 haben Sie vorgeschlagen, eine hochrangige Expertengruppe für die Digitalisierung der Justiz und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Justiz als beratendes Gremium der Europäischen Kommission einzurichten. Warum?
Der CCBE ist zwar mit seinen Ausschüssen, die sich mit Digitalisierung und der Zukunft der Anwaltschaft befassen, sehr eng an den jeweiligen Vorhaben der Kommission und steht mit der jeweiligen Arbeitsebene in einem ständigen Austausch. Dennoch sind wir der Auffassung, dass es gut wäre, eine permanente Beratergruppe einzurichten, die Praktiker aus allen Bereichen (Justiz und Anwaltschaft) und der Wissenschaft, zusammenbringt. Dort könnte die weitere Entwicklung begleitet werden und für die Kommission wäre es eine gute Gelegenheit, sich laufend mit der Praxis auszutauschen. Der Vorschlag beruht auch auf meinen Erfahrungen, die ich seit vielen Jahren als Mitglied der Expertenkommission für die Beratung in Fragen der EU-Strafrechtspolitik gemacht habe. Wir sind eine Gruppe von Personen aus der Justiz, der Wissenschaft und der Anwaltschaft und kommen zweimal im Jahr zusammen. Die Kommission stellt uns ihre Vorhaben vor und diskutiert mit den Experten aus den verschiedenen Bereichen die Einzelheiten der Vorhaben. Mein Eindruck ist, dass die Kommission aus den Beiträgen der Praktiker durchaus wertvolle Anregungen für ihre Vorhaben mitnimmt. Das heißt natürlich nicht, dass die Kommission sich in allen Fragen nach der Meinung der Experten richtet, aber eine solche Gruppe sorgt schon für einen fruchtbaren Austausch. Meine Vorstellung ist, dass ein solches Gremium auch der weiteren Entwicklung der Digitalisierung und des Einsatzes von künstlicher Intelligenz gut tun könnte.
Am 1. Juni 2021 hat die Europäische Staatsanwaltschaft Ihre Arbeit aufgenommen. Inwiefern begleiten Sie dies?
Wir haben die Entwicklung zur Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft von den Vorüberlegungen über den ersten Verordnungsvorschlag der Kommission bis zur Verabschiedung der Verordnung mit dem Strafrechtsausschuss des CCBE sehr eng begleitet und waren dazu in ständigem Austausch mit den zuständigen Personen auf Kommissionsebene. Die Anwaltschaft hätte sich eher eine einheitliche Europäische Strafverfahrensordnung für die Europäische Staatsanwaltschaft gewünscht. Dies ist aber letztlich nicht an der Kommission, sondern an den Mitgliedstaaten gescheitert, die ihr nationales Recht nicht aufgeben wollten.
Auch in Zukunft werden wir die Praxis der Europäischen Staatsanwaltschaft über unseren Strafrechtsausschuss und das Präsidium des CCBE eng begleiten. Ende März dieses Jahres hatten wir ein erstes Gespräch mit dem Stellvertreter der Europäischen Generalstaatsanwältin, Danilo Ceccarelli. Das war ein angenehm offenes Gespräch, in dem Herr Ceccarelli deutlich gemacht hat, dass ihm Feedback aus der Anwaltschaft sehr willkommen ist. Wir waren uns einig, dass es für die Zentrale in Luxemburg wichtig ist, aus der Praxis der Verteidigung zu hören, was gut oder schlecht läuft und welche Themen Aufmerksamkeit verlangen. Wir haben einen regelmäßigen Austausch zwischen dem CCBE-Strafrechtsausschuss und der Europäischen Staatsanwaltschaft vereinbart und wollen solche Treffen jedenfalls in der Anfangsphase zweimal im Jahr durchführen. Dies knüpft im Übrigen an unsere Tradition an, dass wir einmal im Jahr mit den Richtern und Richterinnen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und mit den Richtern des Gerichtshofs der Europäischen Union zusammenkommen und aktuelle Fragestellungen besprechen. Als CCBE werden wir uns bemühen, über unseren sehr aktiven Strafrechtsausschuss Feedback aus den Ländern zu erhalten und Schlussfolgerungen an die Europäische Staatsanwaltschaft heranzutragen. Ein großes Problem, das wir sehen, ist die Anwendung des nationalen Rechts in den verschiedenen Mitgliedstaaten und damit eine möglicherweise uneinheitliche Praxis der Europäischen Staatsanwaltschaft und der damit auch verbundene Anreiz für das sog. Forum Shopping. Wir werden uns daher sehr bemühen, einen Überblick über die Praxis zu erhalten und sind darauf eingestellt, Probleme mit der Europäischen Staatsanwaltschaft zu diskutieren.
Drei Jahre bevor Sie Präsidentin wurden, sind Sie zur dritten Vizepräsidentin des CCBE gewählt worden, anschließend weiter nach vorne gerückt und konnten so längerfristig Ihre Präsidentschaft vorbereiten. Was zeichnet die Zusammenarbeit innerhalb des CCBE aus?
Die Zusammenarbeit im Präsidium zeichnet sich dadurch aus, dass wir sehr gut als Team arbeiten. In dem Jahr der Präsidentschaft liegt zwar vieles bei der Präsidentin, aber wichtige Entscheidungen treffen wir gemeinsam, auch wenn die Präsidentin nach der Satzung alleine entscheiden könnte. Das war von Anbeginn meiner Zeit in der Präsidentschaft so und man kann daher auch nicht von „Vorrücken“ innerhalb der Präsidentschaft sprechen, sondern wer neu dazu kommt, wird von Anfang an eingebunden. Die schon länger dabei sind, sind auch jedes Jahr wieder dankbar, wenn neue Sichtweisen von außen durch den jeweiligen „Dritten“ Vizepräsidenten dazu kommen. Insofern ist das Modell sehr dynamisch und dazu angelegt, effektiv zu arbeiten und gleichzeitig zu ausgewogenen Entscheidungen zu kommen. Letzteres gewährleistet auch die Diversität des Gremiums mit den Kollegen aus vier verschiedenen Ländern mit verschiedenen kulturellen und nationalen geschichtlichen Hintergründen. In diesem Umfeld und mit den Mitgliedern aus 45 verschiedenen kulturellen und historischen Zusammenhängen zu arbeiten ist einfach eine große Freude und ich bin sehr dankbar, dass mich das Leben dorthin gespült hat.
Welche Anregungen könnten die Anwaltschaft und die Justiz in Deutschland aus dem europäischen Ausland übernehmen?
Ich sehe mit Sorge, dass die Bedeutung der Rechtsanwaltschaft für den Rechtsstaat in Deutschland zunehmend geringer geschätzt wird und ein klares Bekenntnis zu einer unabhängigen und zur Verschwiegenheit verpflichteten Anwaltschaft auf staatlicher Seite nicht mehr besteht. Für diese Entwicklung gibt es zahlreiche Beispiele: Im Entwurf für das Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft ist ausdrücklich vorgesehen, dass Unterlagen, die sich in den Händen von Rechtsanwälten befinden, im Fall von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht vor einer Beschlagnahme geschützt sind. Nach diesem Konzept darf die Staatsanwaltschaft auf alle Anwaltsunterlagen zugreifen, nur Verteidigerunterlagen sind geschützt. Zwar ist dies die Rechtslage, die vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungswidrig beurteilt wurde, dies hätte aber nicht dazu führen müssen, die Anwaltskommunikation nun mit einer StPO-Änderung ausdrücklich für beschlagnahmefähig zu erklären. Wenn diese Regelung aus dem Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft so umgesetzt würde, wäre das ein in der Europäischen Union einmaliger Vorgang. In anderen Ländern der EU sind Anwaltsunterlagen grundsätzlich vor Beschlagnahme geschützt, es sei denn das Verfahren richtet sich gegen einen Rechtsanwalt. Aber auch in solchen Fällen kann in vielen Ländern nicht – wie bei uns – einfach durchsucht werden. Andere Länder haben zusätzliche Absicherungen, wie z.B., dass ein Vertreter der Rechtsanwaltskammer bei der Durchsuchung anwesend sein muss, dass ein Staatsanwalt und ein Richter anwesend sein müssen oder dass die beschlagnahmten Unterlagen vor der Freigabe für das Ermittlungsverfahren vor einem Gericht in Gegenwart eines Vertreters der Rechtsanwaltskammer daraufhin untersucht werden, ob es sich um durch die Verschwiegenheitspflicht geschützte Dokumente handelt oder nicht. Von solchen Vorkehrungen sind wir bekanntlich weit entfernt.
Ein weiteres Beispiel ist das Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen, d.h. die Ergänzung der AO mit den §§ 138 d) ff. . Mit diesem Gesetz wurde eine EU- Richtlinie umgesetzt. Diese Richtlinie ermöglicht es den Mitgliedstaaten, Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen von der Mitteilungspflicht auszunehmen. Der CCBE hatte sich sehr dafür eingesetzt, dass diese Ausnahme in die Richtlinie aufgenommen wurde. Deutschland hat von dieser Ausnahme leider keinen Gebrauch gemacht, bei uns sind nunmehr auch Rechtsanwälte mitteilungspflichtig, wenn sie entsprechend beraten haben.
Ein anderes Beispiel ist das Lieferkettengesetz – dazu wurde die Anwaltschaft nicht einmal angehört und auch dort findet sich keine Ausnahme für Rechtsanwaltskanzleien, die sich nun bei der Auswahl ihrer Mandanten an den Vorgaben des Lieferkettengesetzes messen lassen müssen. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, für Rechtsanwälte, die in der Lieferkette Rechtsberatung vornehmen, eine Ausnahme ähnlich wie bei den Geldwäscheverpflichtungen zu schaffen. Ähnlich verhält es sich mit der neuen Geldwäschevorschrift des § 261 StGB. Dort sind Verteidiger weitgehend von dem neuen sehr umfassenden Tatbestand ausgenommen. Nicht aber Rechtsanwälte, obwohl wir wissen, dass der Übergang von der anwaltlichen Beratung zur Strafverteidigung fließend sein kann und es häufig die Konstellation gibt, dass Personen, die einer Vermögensstraftat verdächtig sind, auch zivilrechtlichen Rat benötigen und zivilrechtlich von dem Geschädigten in Anspruch genommen werden. Zivilrechtliche anwaltliche Vertretung ist in Fällen, in denen dem Mandanten Bereicherung vorgeworfen wird (wenn keine Versicherung greift) mit dem neuen § 261 StGB praktisch abgeschnitten, weil Anwälte ein großes Risiko eingehen würden, sich durch die Entgegennahme von Honorar, das vom Mandanten kommt, wegen leichtfertiger Geldwäsche strafbar zu machen.
Als Beispiel für die Geringschätzung der Rolle der Anwaltschaft kann ich auch die letzte Neuregelung zur Pflichtverteidigerbestellung anführen: Auf EU – Ebene wurde mit der Richtlinie über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und Beschuldigte eines Strafverfahrens u.a. in Fällen der Freiheitsentziehung ein Recht auf Beiordnung einer Rechtsanwältin vor der ersten Vernehmung geschaffen. Dieses Recht wurde in Deutschland mit § 141 a StPO deutlich verwässert – nach dem Motto: bloß nicht zu früh eine anwaltliche Beratung an den Beschuldigten heranlassen und erst einmal versuchen, den Beschuldigten dazu zu überreden, die Vernehmung ohne anwaltlichen Beistand zu machen. Diese Regelung stellt das Konzept der EU-Richtlinie, wonach bei Vernehmungen nach einer Festnahme immer ein Anwalt dabei sein sollte, auf den Kopf.
Mein Eindruck ist, dass auf EU-Ebene im Parlament aber auch bei der Kommission ein deutlich ausgeprägteres Bewusstsein für die unersetzbare rechtsstaatliche Rolle der Anwaltschaft herrscht als in Deutschland und es wäre schön, wenn die Verantwortlichen im Deutschen Bundestag und im Justizministerium sich wieder mehr auf die Rolle und Bedeutung der Anwaltschaft für den Rechtsstaat besinnen würden.
Auch das Jahr Ihrer Präsidentschaft ist noch stark durch die Covid-19-Pandemie geprägt. Wie sehr schränkt es Ihre Arbeit ein?
Natürlich ist es sehr bedauerlich, dass wir uns bislang weiterhin nicht physisch treffen können. Den informellen Kontakt in persönlichen Treffen vermissen wir alle sehr. Andererseits läuft die inhaltliche Arbeit natürlich unvermindert weiter und auch die notwendigen Kontakte zu den Parlamentariern, den Mitgliedern der Kommission oder Vertretern anderer Organisationen lassen sich online unkompliziert fortsetzen oder sind durch das digitale Medium teilweise sogar einfacher geworden. Ich würde sagen, dass die Arbeit tatsächlich nicht eingeschränkt wurde. Was man auf der europapolitischen Ebene beobachten kann, wo die Kommission mit hoher Schlagzahl mit Vorschlägen, Erklärungen und Projekten herauskommt, gilt auch für den CCBE. Wir waren und sind sehr produktiv und ich finde es immer wieder unglaublich, was dieser Verband mit einem kleinen, hervorragenden hauptamtlichen Team in Brüssel und den ehrenamtlich tätigen Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen, die über ganz Europa verteilt sind, leistet.