
Gegen die Singularzulassung beim BGH in Zivilsachen

Fragen an Kammerpräsidentin Dr. Vera Hofmann zum Antrag der RAK Berlin auf Abschaffung der Singularzulassung beim BGH
Die Kammerversammlung der RAK Berlin hat am 6. März 2024 den Vorstand aufgefordert, einen neuen Vorstoß zur Abschaffung der Singularzulassung beim BGH in Zivilsachen zu unternehmen und sich für die Freigabe der Postulationsfähigkeit bei den Zivilgerichten des BGH bei Erfüllung bestimmter Zulassungskriterien einzusetzen.
Die Präsidentin Dr. Vera Hofmann hat den Antrag für die 167. Hauptversammlung am 20. September 2024 am 19. April 2024 eingereicht.
Kammerton: Können Sie zunächst kurz umreißen, was die Singularzulassung ist und weshalb der Vorstand der Rechtsanwaltskammer sich für deren Abschaffung einsetzt?
Dr. Hofmann: Seit jeher können in der Revisionsinstanz in Strafsachen beim BGH, vor dem Bundesarbeitsgericht, dem Bundesverwaltungsgericht, dem Bundesfinanzhof und dem Bundessozialgericht sämtliche zugelassene Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte auftreten und die Interessen ihrer Mandantschaft somit durch sämtliche Instanzen vertreten. Auch vor dem BVerfG gibt es keine Einschränkung und seit dem Jahr 2002 gilt dies auch für sämtliche Oberlandesgerichte. Einzig beim BGH für Zivilsachen dürfen aufgrund der Singularzulassung nur gesondert zugelassene Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte auftreten, die wiederum daneben nicht vor den unteren Instanzen auftreten dürfen. Aktuell gibt es 37 zugelassene Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof.
Durch die Singularzulassung müssen die Rechtsuchenden für das Verfahren vor dem BGH einen dieser 37 BGH-Rechtsanwälte beauftragen, auch wenn sie mit ihrer bisherigen rechtlichen Vertretung zufrieden waren, Vertrauen in deren Fähigkeiten haben und diese über detaillierte Kenntnisse des konkreten Falles und des bisherigen gerichtlichen Verfahrens verfügen und gegebenenfalls sogar als Fachanwalt auf dem betreffenden Rechtsgebiet spezialisiert sind. Aus Sicht der Rechtsanwaltskammer Berlin stellt dies einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Recht der Rechtsuchenden dar, sich ihre rechtliche Vertretung selbst auszusuchen.
Die Hauptversammlung der BRAK hat sich 2017 auf Initiative der RAK Düsseldorf und der RAK Berlin mit der Abschaffung der Singularzulassung befasst. Die Mehrheit entschied sich 2019 für eine moderate Reform der Singularzulassung. Warum stellt die RAK Berlin nun erneut einen Antrag auf Abschaffung der Singularzulassung beim BGH in Zivilsachen?
Die Mehrheit der 28 Rechtsanwaltskammern entschied sich damals dafür, lediglich das Auswahlverfahren für die Neuzulassung von BGH-Anwälten zu reformieren. Diese geplante Änderung des Wahlverfahrens ist bis heute nicht erreicht worden. Zwar hat sich die BRAK mit einem detaillierten Gesetzesvorschlag an die damalige Bundesjustizministerin gewandt, das Thema wurde dort jedoch nicht weiter behandelt. Das Wahlverfahren ist somit nicht geändert worden, weshalb die damals gefundene Kompromisslösung als gescheitert gelten muss und Anlass besteht, das Thema erneut zur Diskussion und Abstimmung zu stellen.
Warum beschränkt sich der Antrag der RAK Berlin nicht darauf, die Singularzulassung abzuschaffen, sondern kombiniert es damit, dass nur die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte beim BGH auftreten dürfen, die 5 Jahre lang zugelassen sind, 60 Stunden theoretischen Unterricht zum Revisionsrecht mit drei Klausuren erfolgreich absolviert und jährlich mindestens 15 Stunden einschlägige Fortbildungsveranstaltungen besucht haben („Modell 1“)?
Bei der Abstimmung 2019 in der BRAK-HV hat offenbar vor allem das Argument der hohen Qualität der Rechtsprechung durch Mitwirkung von anwaltlichen Revisionsexperten den Ausschlag gegeben. Um jetzt eine breitere Zustimmung für die Abschaffung der Singularzulassung zu erreichen, haben wir uns entschieden, uns für das sogenannte „Modell 1“ auszusprechen, über das damals auch abgestimmt wurde.
Was spricht dagegen, dass eine kleine Gruppe an BGH-Anwältinnen und –Anwälte die Vertretung in der Revisionsinstanz übernimmt und dadurch, dass sie es exklusiv macht, dort viel Übung hat?
Wenn man einen Großteil der Anwaltschaft das Vertreten vor dem BGH verwehrt und den Rechtsuchenden die Wahl ihrer Rechtsvertretung beschränkt, muss diese Beschränkung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Die Singularzulassung stellt einen gravierenden Eingriff in die Berufsausübung dar und muss durch gewichtige Gründe gerechtfertigt sein. Derartige Gründe kann ich schlicht nicht erkennen.
Die Qualität der Rechtsprechung vor den anderen obersten Bundesgerichten ist nicht schlechter als die des BGH in Zivilsachen. Die gleichen Argumente, die heute noch für die Beibehaltung der Singularzulassung beim BGH angeführt werden, wurden seinerzeit für die Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten vorgebracht. Mir ist nicht bekannt, dass die Aufgabe der Zulassungsbeschränkung bei den Oberlandesgerichten negative Folgen für die Rechtsprechung hatte.
Einer der wichtigsten Gründe dürfte jedoch die voranschreitende Spezialisierung sein. Die alleinige Vertretung vor dem BGH durch sehr wenige BGH-Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als Revisionsspezialisten geht an dem sich weiter verstärkenden Trend zur Spezialisierung der Anwaltschaft vorbei. Am 01.01.2024 gab es in Deutschland 165.776 Rechtsanwälte, unter denen sich 46.035 Fachanwältinnen und Fachanwälte befanden. Unter den 37 BGH-Anwälten gibt es lediglich sieben Fachanwälte, auf die sich elf Fachanwaltstitel verteilen. Das heißt, die Betreuung komplexer Rechtsfälle durch im materiellen Recht bewanderte Spezialistinnen und Spezialisten (häufig Fachanwälte) endet momentan regelmäßig mit dem Ende der Berufungsinstanz und dem Beginn der Revisionsinstanz. Die wenigen BGH-Anwälte müssen qua Amt fachlich Generalisten sein, während die überwiegende Zahl der höchstrichterlich bedeutsamen Rechtsfragen materiell-rechtliche Spezialkenntnisse erfordert, die bei den BGH-Anwälten so nicht vorhanden sein können.
Darüber hinaus stellt nach meiner Überzeugung gerade die sehr begrenzte Anzahl der BGH-Anwälte ein gravierendes Problem dar: Im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens kann es von Vorteil, aber eben auch von Nachteil sein, wenn sich die anwaltliche Vertretung und das Gericht persönlich kennen. Wir wissen alle, dass im Rahmen der Interessenvertretung manchmal hart gekämpft werden muss, bis hin zu Befangenheitsanträgen. Dieser harte Austausch fällt einfach schwerer, wenn man sich beruflich und vielleicht auch privat permanent wieder begegnet.
Kernpunkt ist für mich, dass die Singularzulassung nicht mehr dem Selbstverständnis der großen Mehrheit der Anwaltschaft entspricht. Die anwaltliche Tätigkeit ist die parteiische Interessenvertretung der Mandantschaft. Aspekte wie „Filterfunktion“ (also die Idee, die BGH-Anwaltschaft würde aussichtslose Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden „wegfiltern“), gemeinsame Entwicklung einer BGH-Rechtsprechung etc. verkennen, dass auch die Vertretung vor dem BGH einzig und allein im Interesse der Mandantschaft zu erfolgen hat. Andere Interessen haben hier grundsätzlich zurückzutreten.
Das bisherige Wahlverfahren ist auch bei denen, die ansonsten das Zulassungssystem nicht ändern wollen, auf Kritik gestoßen. Warum?
Für Außenstehende (also rund 160.000 zugelassene Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen) mutet das Auswahlverfahren absurd an. Zunächst beginnt es damit, dass die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, also eine Richterin, das Verfahren einleitet und leitet. Sie hat dies 2023 erneut getan. Es findet nicht etwa jährlich statt, sondern viel zu selten, der letzte Durchlauf erfolgte 2013. Der Wahlausschuss besteht gem. § 165 BRAO aus Vertretern der BGH-Richterschaft (momentan 15 Mitglieder), dem Präsidium der RAK beim BGH und dem BRAK-Präsidium (jeweils 6 Mitglieder). Da die BGH-Richterschaft die für Beschlüsse notwendige Mehrheit innehat, können also weiterhin allein die BGH-Richter darüber entscheiden, wer in Zukunft als BGH-Anwältin oder BGH-Anwalt vor ihnen auftreten darf. Allein das erscheint mir für die freie Anwaltschaft wesensfremd.
Bei dem Wahlverfahren möchte ich nicht zu sehr ins Detail gehen. Je mehr ich mich mit ihm befasst habe, umso mehr befremdet es mich. Es wird zunächst durch den Wahlausschuss selbst nach seinem eigenen, freien Ermessen festgelegt, wie hoch der „angemessene“ Bedarf an weiteren BGH-Anwälten eingeschätzt wird. Es wird nach unscharfen und nicht gerichtlich überprüfbaren Kriterien und in einem intransparenten Verfahren eine Entscheidung getroffen, die kaum angreifbar ist. Dieses Wahlverfahren entspricht insgesamt nicht den Maßstäben, die für eine derart gravierende berufliche Zulassungsentscheidung angemessen wären, und wird daher stark kritisiert, beispielsweise von Philipp Heinrichs in seiner Dissertation „Freiheit der Advokatur“, der es sogar als europarechts- und verfassungswidrig bezeichnet.
Die Bewahrer der Singularzulassung argumentieren, dass dieses System die anwaltliche Vertretung vor dem BGH für jedermann garantiere. Besteht die Gefahr, dass es nach der Abschaffung der Singularzulassung in Prozesskosten- bzw. Verfahrenskostenhilfe-Verfahren schwieriger werden könnte, eine anwaltliche Vertretung zu finden?
Ich bezweifle das. Vielmehr gaben bei einer Befragung, die die Rechtsanwaltskammer Berlin im Jahr 2016 unter ihren Mitgliedern durchführte, 18,4 % (164 Personen) an, dass es sich sogar schwierig gestaltete, einen BGH-Anwalt zu finden, der bereit war, das Verfahren zu gesetzlichen Gebühren zu führen. Dies dürfte erst recht für PKH-Verfahren gelten. Ich vermute vielmehr, wenn jemand in den Instanzgerichten – wo die Auswahl viel größer ist – eine anwaltliche Vertretung gefunden hat, ist es für ihn eher eine Erleichterung, wenn es nun möglich wäre, diese Vertretung vor dem BGH nicht mehr wechseln zu müssen. Aber ich gebe zu: man kann weder die eine noch die andere These überprüfen.
Kann es durch die Abschaffung der Singularzulassung dazu kommen, dass die Waffengleichheit vor dem BGH gefährdet wird, weil dann Großkanzleien bestimmte Mandate nicht annehmen, sie in den von ihnen übernommenen Fällen aber im Regelfall größere Erfolgsaussichten haben werden?
Manche reden hier sogar von der Gefahr einer „Zwei-Klassen-Rechtsvertretung“. Ehrlich gesagt habe ich dieses Argument noch nie verstanden. Vielleicht liegt es daran, dass ich Einzelanwältin bin. Ich bin auch in Verfahren tätig, in denen auf der Gegenseite Großkanzleien stehen. Wieso ist dadurch die Waffengleichheit gefährdet? Sind diese per se besser oder erfolgreicher? Abgesehen davon ist eher zu erwarten, dass die Waffengleichheit durch eine höhere Spezialisierung der Beteiligten wiederhergestellt wird.
Welche Erfolgsaussichten räumen Sie Ihrem Antrag ein?
Das kann ich kaum seriös beantworten. Sagen wir mal so: Die Beharrungskräfte in der BRAK sind erheblich. Allerdings hat sich die Zusammensetzung der BRAK-Hauptversammlung, die sich aus den gewählten Präsidentinnen und Präsidenten der Rechtsanwaltskammern zusammensetzt, seit 2019 erheblich verändert. Außerdem hat die BRAO-Reform dazu geführt, dass die Stimmen der Kammern gem. § 190 BRAO unterschiedlich gewichtet werden. Die Situation ist zumindest anders als 2019. Ich bin also gespannt und glaube, dass wir eine Chance haben.