Nur Massenschäden geraten noch verstärkt zum Gericht

Monika Nöhre, bis 2015 Präsidentin des Kammergerichts und bis 2019 Schlichterin der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft. Foto: Caro Höne

Im September 2020 hat das Bundesjustizministerium ein Gutachten in Auftrag gegeben, mit dem die Ursachen für den Eingangsrückgang in der Ziviljustiz erforscht werden sollten. Das aus Rechts- und Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern zusammengesetzte Forschungsteam hat 7.500 Privatpersonen, außerdem Unternehmen, Richterinnen und Richter sowie die Anwaltschaft, Versicherungen und Verbände befragt. Bei jeweils drei Amts- und Landgerichten wurden 660 Akten ausgewertet.

Das Forschungsteam hat nun seinen Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben vorgelegt.

Monika Nöhre, Präsidentin des Kammergerichts a.D., gehört dem Forschungsteam an. Sie erläutert die Ergebnisse des Gutachtens im Interview mit dem Kammerton:

 

Frau Nöhre, in Ihrem Gutachten kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die Streitanlässe zunehmen, die Klagen aber zurückgehen. An welchen Gerichten haben Sie dies festgestellt?

Der Rückgang ist ein allgemeines, bundesweit zu beobachtendes Phänomen. Er erfolgt kontinuierlich und beschränkt sich nicht auf einzelne Gerichte, sondern kann über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren in allen Regionen beobachtet werden. Von 2005 bis 2019 hat die Ziviljustiz mehr als 600.000 erstinstanzliche Verfahren verloren, das entspricht einem Rückgang von 32,5 %. Dabei entfallen auf die Amtsgerichte rund 523.000 und auf die Landgerichte rund 89.000 Sachen. Der Schwund betrifft nahezu alle Rechtsgebiete. Ausnahmen konnten wir bei den Kauf- und Reisevertragssachen feststellen. Hier gab es in den letzten Jahren Wellenbewegungen, die sich allerdings bestimmten Ereignissen zuordnen lassen (Stichworte „Dieselskandal“ und „Flugchaossommer“) und keine dauerhafte Umkehr des Abwärtstrends bedeuten.

Soweit in einigen ostdeutschen Bundesländern ein vergleichsweise starker Rückgang der Zahlen zu beobachten ist, lässt sich dies zu großen Teilen auf den Bevölkerungsrückgang in dieser Region zurückführen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Entwicklung auf einen Vertrauensverlust gegenüber der Justiz zurückzuführen ist, da das Vertrauen sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland im Laufe der Zeit gestiegen ist.

 

Spielt es eine Rolle, ob es um kleinere oder größere Konflikte geht? Ist relevant ob Privatpersonen oder Unternehmen ihr Recht durchsetzen wollen?

Unsere statistische Auswertung hat ergeben, dass kleine, mittlere und große Konflikte bzw. Streitwerte gleichermaßen betroffen sind. Interessanterweise ist die Verteilung über die einzelnen Streitwertgruppen im Zeitverlauf sowohl bei den Amts- als auch den Landgerichten nahezu gleichgeblieben. Der durchschnittliche Streitwert ist real, d.h. unter Berücksichtigung der Preisentwicklung, leicht gesunken. Dieses ausgewogene Bild dürfte dafür sprechen, dass es bei der Zusammensetzung der Klageparteien keine größeren Veränderungen gegeben hat.

 

Wie ist die Entwicklung bei Massenschäden wie im Dieselskandal? Hängt die Reaktion der Verbraucher davon ab, ob sie rechtsschutzversichert sind?

Unser Forschungsvorhaben war breit angelegt. Wir haben die Rolle der Rechtsschutzversicherung bewusst in die Untersuchung einbezogen. Rechtsschutzversicherungsverträge werden fast ausschließlich von Privatpersonen abgeschlossen. Ihre Anzahl ist im Untersuchungszeitraum gestiegen. 2021, im Zeitpunkt unserer Erhebung, verfügten rund 57 % der Privathaushalte über einen entsprechenden Versicherungsschutz.

Bei näherer Betrachtung der Auswirkungen des Versicherungsschutzes auf das Klagegeschehen haben wir eine interessante Beobachtung gemacht. Nach unseren Recherchen wirken Versicherungen nicht nur in eine, sondern in zwei Richtungen: klagefördernd wie klagemindernd. Der mindernde Effekt hängt mit einer Änderung der Bearbeitung von Rechtsschutzfällen bei den Versicherungen zusammen. Sie haben im Laufe der Zeit ihre Praxis umgestellt und die telefonische Vorbehandlung von Fällen und deren Aussteuerung und Verweisung an kooperierende Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie Rechtsdienstleister erheblich ausgebaut. Hierdurch wird eine beträchtliche Zahl von Konfliktfällen durch aktives Schadensmanagement erledigt und kommt nicht mehr zum Gericht. Nach einer Schätzung aus dem Kreis der Versicherer soll dies für 90 % aller Fälle gelten.

Vollkommen anders ist die Situation bei Massenschäden wie z.B. den Schadensersatzklagen in den „Dieselfällen“. Hier wirkt sich eine Rechtsschutzversicherung klagesteigernd aus. Die Geschädigten wählen in aller Regel nach vorheriger anwaltlicher Beratung den Weg der Individualklage. Nach Angaben des GDV verfügten rund 98 % der Einzelkläger aus diesem Komplex über einen entsprechenden Versicherungsschutz. Das generelle Prozessgeschehen wird heruntergefahren, Massenschäden gelangen verstärkt zum Gericht. Das ist für die Justiz nicht immer leicht zu verkraften und führt partiell zu Überlastungen.

 

Liegt der Klagerückgang daran, dass es den Rechtssuchenden zu lange dauert und zu teuer ist, die Gerichte in Anspruch zu nehmen, oder daran, dass sie nicht sicher abschätzen können, ob sie Erfolg haben werden?

Um die Motive potentieller Klageparteien zu erforschen, haben wir 7.500 Privatpersonen im Mindestalter von 18 Jahren und Vertreterinnen und Vertreter von 300 Unternehmen hierzu befragt. Eine interessante Erkenntnis vorab: In der bisherigen Diskussion über die Ursachen für den Rückgang standen Bürgerinnen und Bürger im Vordergrund. Wir haben allerdings bei Auswertung unserer Aktenstichprobe bei sechs Gerichten in verschiedenen Bundesländern feststellen können, dass der überwiegende Anteil von Zivilklagen von Unternehmen und nicht von Privatpersonen ausging. Erstaunlicherweise sind die Motive für ein Absehen von einer Klage bei beiden Gruppen nicht allzu unterschiedlich. Das „Aufwands-Ertragsverhältnis“ spielt im Privat- wie Wirtschaftsbereich eine ausschlaggebende Rolle. Es fällt in Bezug auf eine Zivilklage nicht immer günstig aus. Der hohe Aufwand für einen Prozess, die Furcht vor hohen Kosten und einer unangemessen langen Prozessdauer standen im Vordergrund der Überlegungen pro oder contra Klage. Bei den Unternehmen haben in den zurückliegenden Jahren im Übrigen Maßnahmen zur Konfliktvorbeugung zugenommen. Hierzu gehören eine vorausschauende Vertragsgestaltung, die ständige Aktualisierung der AGB, Kulanzangebote gegenüber den Kunden, Bonitätsprüfungen und Vorkasse als Zahlungsmethode.

 

Kommt es in Ihrem Untersuchungszeitraum häufiger als früher zu einvernehmlichen Lösungen oder Schlichtungen oder dazu, dass Legal-Tech-Angebote genutzt werden und dabei im Erfolgsfall auf einen Teil der Forderung verzichtet wird?

Unternehmen setzen eindeutig auf einvernehmliche Lösungen. Der direkte Kontakt mit dem Kunden steht an erster, der Zivilprozess an letzter Stelle. Betrachtet man die Vergleichsquote bei den Gerichten, so ist im Laufe der Zeit keine signifikante Veränderung festzustellen, auch wenn Anwältinnen und Anwälte gelegentlich eine andere Einschätzung haben. So haben wir bei unseren Befragungen wiederholt Klagen darüber gehört, die Gerichte versuchten heute stärker als früher die Parteien zu einem Vergleich zu drängen. Die statistischen Daten bestätigen diese Wahrnehmung nicht.

Die Eingangszahlen bei den Schlichtungsstellen sind während unseres Untersuchungszeitraums gestiegen. Sie haben sich nahezu verdoppelt. Damit haben sie sich zwar in eine andere Richtung als die Klagen entwickelt, rein quantitativ können sie die Klageebbe aber nicht erklären. Einem Zuwachs von 50.000 bis 60.000 Schlichtungsverfahren stehen Rückgange von über 500.000 Zivilklagen bei den Amtsgerichten gegenüber. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass Schlichtungsanträge zu einem beträchtlichen Teil wohl erst durch das kostenfreie Angebot der Schlichtungsstellen generiert werden dürften. Legal-Tech-Angebote sind immer dann attraktiv, wenn Forderungen betroffen sind, die auf im Wesentlichen gleichartigen Ereignissen beruhen und gleiche, relativ einfach strukturierte Rechtsfragen betreffen. Als Beispiel kann auf die Entschädigungsansprüche von Fluggästen wegen Verspätung, Annullierung oder Nichtbeförderung verwiesen werden. Sie werden vor Gericht gebracht, wenn entsprechende komfortable Angebote vorhanden sind. Die Klageparteien sehen in diesen Fällen das „Kosten-Nutzen-Verhältnis“ einer Geltendmachung selbst dann als gewahrt an, wenn sie im Erfolgsfall eine Zahlung von ca. 30 % der Forderung an den Anbieter leisten müssen.

 

Zu welchem Ergebnis kommen Sie in Ihrer Untersuchung über die Rolle der Anwaltschaft?

Auf dem Weg vom Konfliktfall zum Gericht sind Anwältinnen und Anwälte die wichtigsten Weichensteller. Deshalb haben wir bei unserer Forschung auf diesen Sektor einen Schwerpunkt gelegt. Wir haben mehr als 100.000 Berufsträger mittels eines Fragebogens online zu ihrer anwaltlichen und insbesondere forensischen Tätigkeit und der Klagebereitschaft ihrer Mandanten befragt und rund 2.700 Antworten erhalten. Zudem bestand die Gelegenheit, im Rahmen einer Freitextfrage Erfahrungen zu schildern und Meinungen zu äußern. Zusätzlich haben wir 16 Interviews geführt. Bei einem Blick auf die Entwicklung ihrer forensischen Tätigkeit gingen über 38 % von einem Rückgang in den letzten 10 bis 15 Jahren aus. Als Hinderungsgründe für eine Klage standen hier Länge, Kosten und unsichere Erfolgsaussichten an erster Stelle.

Bei den Freitextantworten und den Interviews spielten wiederholt Faktoren wie mangelnde Spezialisierung und fehlendes wirtschaftliches und technisches Verständnis auf Richterseite sowie ein häufiger Wechsel auf der Richterbank eine Rolle. Die digitale Ausstattung der Gerichte findet oft Erwähnung und wurde als völlig unzulänglich charakterisiert. Nach allem lässt sich durchaus der Eindruck gewinnen, das Verständnis zwischen Richter- und Anwaltschaft sei in den vergangenen Jahren gesunken. Dies vermitteln auch die Schilderungen aus Interviews, die wir zur Komplettierung unserer Forschung mit Richterinnen und Richtern geführt haben. Hier wurde insbesondere die Prozessführung in den Massenverfahren in Zusammenhang mit dem „Dieselskandal“ kritisiert. Konkret betraf es die als überbordend und unstrukturiert bezeichneten Schriftsätze und die Art der Verhandlungsführung mit kurzfristig beauftragten Terminsvertretern ohne ausreichende Aktenkenntnis.

 

Warum stellen die von Ihnen befragten Richterinnen und Richter fest, dass sich der Rückgang der Eingangszahlen nicht in ihrem eigenen Prozessdezernat abbilde?

Diese Einschätzung hat mich nicht im Mindesten verwundert. Sie deckt sich vielmehr mit meinen langjährigen richterlichen Erfahrungen. Justizeinheiten sind keine über Jahre starren Gebilde. Die Ressourcen und damit auch die Zahl der Richterstellen werden von der Exekutive, in Berlin der Senatsverwaltung für Justiz, zu Beginn eines Haushaltsjahres den Gerichten zugewiesen. Grundlage hierfür ist der erwartete Geschäftsanfall, wobei sich die Größenordnung automatisch an den abgelaufenen Jahren orientiert. Mit anderen Worten, die Anzahl der bei einem Gericht tätigen Personen ist nicht gleichbleibend, sondern durchaus auf die prognostizierten Eingangszahlen abgestimmt. In diesem Zusammenhang ist weiter zu berücksichtigen, dass im Laufe der Zeit eine Reihe von Aufgaben aus dem Service- in den Richterbereich verlagert wurde, dazu gehören z.B. der gesamte Schreib- und Protokolldienst. Diese Faktoren fallen zeitlich nicht unerheblich ins Gewicht. Schließlich erweisen sich auch Individualklagen in Massenverfahren als Zeitfresser. Damit sind z.B. die „Dieselklagen“ wegen manipulativer Schadstoffsoftware angesprochen. Sie werden von hierauf spezialisierten Kanzleien erhoben, wobei die Klageschrift in der Regel einen ausufernden allgemeinen Vortrag ohne gezielte Abstimmung auf den einzelnen Fall enthält. Ein Umfang von 300 Seiten inclusive Anlagen ist keine Seltenheit, das konnte ich bei Auswertung von Akten aus dem Jahr 2019 feststellen. Dieses Volumen hängt offenbar mit der repetitiven standardisierten Bearbeitung derartiger Fälle zusammen. Bei meinen Recherchen betrug der Umfang von Dieselverfahren bei den Zivilkammern zuletzt 10 %.

 

Würde eine schnellere Digitalisierung die Justiz wieder attraktiver machen?

Ein zeitgemäßes digitales Equipment würde in jedem Fall die Attraktivität der Justiz steigern. Sie würde von Vertreterinnen und Vertretern aus der Anwaltschaft nicht mehr als zurückgeblieben, sondern auf Augenhöhe wahrgenommen. Allerdings habe ich bei meinen Gerichtsbesuchen im Herbst 2021 eine sehr heterogene Justizlandschaft vorgefunden. In drei der von mir besuchten Gerichte gehörten elektronische Akten und Videokonferenzen bereits zum Alltagsgeschäft, in den anderen drei waren sie noch nicht existent. Die wahrgenommene Mangelausstattung überlagert das gesamte Erscheinungsbild der Justiz, wodurch sie ein „Imageproblem“ hat. Sie wird als langsam, umständlich und rückständig eingestuft, weil sie in einer sich fortlaufend beschleunigenden, spezialisierten und komplexen Wirklichkeit unverändert geblieben ist. Alles ist schneller geworden, nur die Justiz nicht. Das rückt sie ein Stück von der übrigen Welt ab.

 

Am 19. September 2023 wird zum Ergebnis des Forschungsvorhabens im Kammergericht eine Podiumsdiskussion stattfinden unter Beteiligung von Monika Nöhre, Präsidentin des Kammergerichts a.D, von Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich (die ebenfalls dem Forschungsteam angehörte), von Kammergerichtspräsident Dr. Bernd Pickel und von RAuN Dr. Marcus Mollnau, Kammerpräsident bis März 2023. Die genauen Daten werden unter www.rak-berlin.de und in der kommenden Ausgabe des Kammertons veröffentlicht.

Kammerton 07/08-2023