Rechtsstaat
in der Krise:
Quo vadis
Israel?

Rechtsanwalt Elmar Esser

Von Rechtsanwalt Elmar Esser, 1. Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung e.V.

 

Die israelische Regierung verfolgt seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2022 Pläne zu einem weitgehenden Umbau der Judikative, mit denen das System der Kontrolle und des Ausgleichs durch Justiz und Anwaltschaft aus den Angeln gehoben würde. Innerhalb der Bevölkerung, der Opposition wie auch in Wirtschaft und Forschung hat sich eine breite Protestbewegung formiert, die sich seit nunmehr vier Monaten an Massendemonstrationen, Streiks und auch der Verweigerung von Militärreservediensten beteiligt. Beobachter sehen Israel mittlerweile in der schwersten Krise seit seiner Gründung vor 75 Jahren.

Um die Auswirkungen, die die Pläne der Regierung hätte, besser einordnen zu können, vorweg einige einführende Anmerkungen:

  • Israel hat keine Verfassung, lediglich sog. „Basic Laws“, die für einzelne Bereiche wie die Grundrechte oder die Judikative eine herausgehobene Stellung einnehmen, allerdings mit einfacher Mehrheit geändert werden können. Eine Ewigkeitsgarantie wie im deutschen Grundgesetz oder eine zweite Kammer im Parlament kennt das israelische System nicht.
  • Es gibt kein ausgeprägtes System von Checks and Balances. Der Premierminister hat eine starke Stellung, der Staatspräsident eher repräsentative Aufgaben.
  • Damit kommt dem Supreme Court (SC) als oberstem Gerichtshof die Aufgabe zu, neben seinen Zuständigkeiten als oberste Instanz u.a. in Zivil- und Strafsachen auch über jegliche Beschwerden einzelner oder von Gruppen gegen Regierungshandeln zu entscheiden, ohne dass dies aber ausdrücklich kodifiziert ist. Diese Kompetenz hat der SC seit ungefähr Mitte der 80’er Jahre selbst entwickelt.
  • Unter Aharon Barak als Präsident hat der SC ab Mitte der 90er Jahre auch den Anspruch formuliert, Gesetze als ultima ratio für ungültig erklären zu können. Zwar ist dies bisher nur in etwa 20 Entscheidungen auch tatsächlich geschehen. Gleichwohl ist die Kritik hieran insbesondere aus dem rechten politischen Lager in den vergangenen Jahren immer lautstarker geäußert worden. Der SC wird als „aktivistisch“ bezeichnet, weil er sich angeblich zu stark in Politik und Regierungshandeln einmische.
  • Die Pläne der Regierung zielen im Kern darauf ab, den Supreme Court (SC) seiner Funktion als High Court of Justice („Bagatz“) zu entheben.
  • Berücksichtigen muss man auch, dass Premierminister Netanjahu derzeit selbst in drei Strafverfahren wegen Korruption, Vorteilsnahme etc. vor Gericht steht. Die Umsetzung der Pläne der Regierung hätte damit auch Auswirkungen auf seine laufenden Prozesse.

 

Die wichtigsten geplanten Maßnahmen

1) Richterwahlverfahren

Bisher werden alle Richter in Israel auf allen Ebenen von einem Richterwahlausschuss ausgewählt und vom Staatspräsidenten ernannt. Bewerber müssen zuvor mindestens fünf Jahre als Anwalt oder in der Justiz tätig gewesen sein oder Recht gelehrt haben.

Dem Richterwahlausschuss in seiner jetzigen Form gehören 9 Mitglieder an:

  • 2 Vertreter der Knesset, des israelischen Parlaments (Regierungsfraktionen und Opposition),
  • 2 Vertreter der Regierung (darunter in der Regel der Justizminister)
  • 2 Vertreter der Israel Bar, der israelischen Anwaltskammer
  • 3 Richter, darunter auch des SC

Bei Ernennungen zum SC muss ein bestimmtes Quorum erreicht werden.

Der Ausschuss entscheidet auch über Beförderungen, Versetzungen an andere Gerichte etc.

Die Zusammensetzung des Ausschusses gewährleistet ein nicht unerhebliches Mitspracherecht der Richter- und der Anwaltschaft und zwingt Regierungen zu Kompromissen.

Künftig soll der Richterwahlausschuss aus 11 Mitgliedern bestehen. Nicht mehr mitwirken soll die Israel Bar. Stattdessen soll der Justizminister „Vertreter der Öffentlichkeit“ in den Ausschuss entsenden, die er selbst auswählt.

Die Regierung hätte damit insgesamt eine Mehrheit in dem Ausschuss.

2) Overruling von Entscheidungen des Supreme Court

Die Knesset soll künftig Entscheidungen des SC als High Court of Justice mit einfacher Mehrheit (61 von 120 Stimmen) überstimmen können.

Welche Bedeutung das unmittelbar haben kann, zeigt sich im Fall von Ariye Deri, Vorsitzender der Koalitionspartei „Shas“. Er hatte bereits mehrfach Ministerämter in Regierungen von Netanjahu inne. Er ist aber schon 1999 zu drei Jahren Haft wegen Korruption in seiner Zeit als Minister verurteilt worden. Die Strafe hat er verbüßt. 2021 wurde erneut strafrechtlich gegen ihn ermittelt, diesmal wegen Steuerhinterziehung. In einem Deal mit Gericht und Staatsanwaltschaft sagte Deri zu, über mehrere Jahre auf die Übernahme höherer politischer Ämter zu verzichten.

Weil die neue Koalition um die Problematik bei Deri wusste, hat die Knesset, noch bevor die Regierung offiziell im Amt war, ein Gesetz beschlossen, das es Deri ermöglichen sollte, zum Minister ernannt zu werden. Tatsächlich wurde er dann Ende Dezember 2022 zum Minister der neuen Regierung berufen. Gegen diese Ernennung klagte eine NGO vor dem SC. Dieser urteilte Mitte Januar 2023, dass Deri kein Ministeramt übernehmen und das Gesetz nicht angewendet werden dürfe. Der SC gab Premier Netanjahu auf, Deri als Minister zu entlassen. Dieser Aufforderung kam Netanjahu nach.

Deri erklärte daraufhin, dass er alles unternehmen werde, um alsbald wieder dieser Regierung anzugehören: „Wenn ich nicht durch die Tür hineinkomme, dann versuche ich es durchs Fenster. Wenn das nicht funktioniert, dann komme ich über das Dach.“

Tatsächlich ist vorgesehen, Deri erneut zum Minister zu ernennen. Dazu bedarf es dann nur eines neuen Gesetzes, für das dem SC keine Verwerfungskompetenz mehr zugestanden wird. Etwa, in dem es als Gesetz im Verfassungsrang verabschiedet wird.

2) Verwerfungskompetenz bei Verstoß eines Gesetzes gegen ein sog. Basic Law

Sofern der SC ein Gesetz wegen Unvereinbarkeit mit einem Basic Law verwerfen will, soll dies künftig nur bei einer einstimmigen Entscheidung aller 15 Richter möglich sein. Stimmt auch nur ein Richter dagegen, soll die Knesset mit einfacher Mehrheit diese Entscheidung überstimmen können.

3) Abschaffung Senioritätsprinzip für das Amt des Präsidenten des SC

Richter des SC scheiden mit dem 70. Lebensjahr aus dem Amt. Im Oktober 2023 tritt die derzeitige Präsidentin des SC, Esther Hayuth, in den Ruhestand. Bisher folgte auf den Präsidenten jeweils der dienstälteste Richter am SC. Diese Regel soll abgeschafft werden. Die Pläne der Regierung sehen vor, künftig auch einen Präsidenten ernennen zu können, der bis dato kein Richter am SC war.

4) Abschaffung der Funktion der unabhängigen Rechtsberater der Ministerien und der Regierung

Bisher hat jedes Ministerium einen eigenen unabhängigen Rechtsberater. Zudem fungiert die Generalstaatsanwältin zugleich als Oberste Rechtsberaterin der Regierung. Diese Positionen sind mit erheblichen Befugnissen verbunden. Ein Votum eines ministeriellen Rechtsberaters oder der Generalstaatsanwältin hat in der Regel bindende Wirkung. Ein Rechtsberater kann also geplante Maßnahmen der Exekutive blockieren.

Künftig soll jeder Minister den Rechtsberater selbst ernennen (und abberufen) können. Das Amt des Generalstaatsanwaltes und des Obersten Rechtsberaters der Regierung soll getrennt werden. Die Voten der Rechtsberater sollen nur noch unverbindlichen Charakter haben. Damit würde ein wesentlicher Faktor in der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Handelns der Regierung entfallen.

5) Künftige Stellung der israelischen Anwaltskammer (Israel Bar)

In Israel sind alle Juristen, nicht nur die Anwälte, in der Israel Bar organisiert. Das gilt auch für Juristen in staatlichen Funktionen, mit Ausnahme aber der Richter.

Die Unabhängigkeit der Israel Bar als oberste Vertretung der Anwaltschaft in Israel wird ebenfalls in Frage gestellt. Angedacht ist offensichtlich, die Kammer unter die Kontrolle der Regierung zu bringen. Angesichts der Funktion der Anwaltschaft für das gesamte Rechts- und Justizwesen in Israel darf die Tragweite solcher Überlegungen nicht unterschätzt werden.

 

Zum Stand der Gesetzgebungsvorhaben

Die Regierung hat ihre Pläne, die die Bezeichnung „Reform“ völlig zu Unrecht tragen, mit hoher Geschwindigkeit in das parlamentarische Verfahren eingebracht.

Das ursprüngliche Ziel, die wesentlichen Gesetze noch vor den Pessach-Ferien Mitte April durch das Parlament verabschieden zu lassen, konnte die Regierung aufgrund der breiten Protestbewegung in der Gesellschaft nicht verwirklichen. Premierminister Netanjahu kündigte eine Aussetzung der parlamentarischen Vorhaben an. Staatspräsident Herzog hat Regierung und Opposition vor 14 Tagen zu Verhandlungen zusammengerufen.

Ende April hat die Knesset ihre Sitzungspause zu Pessach beendet. Die Gesetzgebungsvorhaben könnten nun jederzeit mit der einfachen Mehrheit der Abgeordneten beschlossen werden. Die rechts-religiöse Koalition verfügt derzeit über 64 von 120 Mandaten.

Aktivitäten der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung und der BRAK

Die Deutsch-Israelische Juristenvereinigung e.V. (DIJV) hat in einer Erklärung vom 21. Januar 2023 u.a. ausgeführt:

„Die Israelisch-Deutsche und die Deutsch-Israelische Juristenvereinigung teilen die Position der Präsidentin des Supreme Court von Israel, der ehrenwerten Richterin Esther Hayut. Wir lehnen die Änderungen des Rechtssystems in Israel, wie sie von Justizminister Yariv Levin vorgeschlagen werden, entschieden ab. Die Vereinigungen warnen davor, dass die vorgesehenen Änderungen dem israelischen Justizsystem, das in seiner jetzigen Form unter den geordneten demokratischen Ländern der Welt hohes Ansehen genießt, schweren Schaden zufügen werden. Die von Minister Levin vorgeschlagenen Änderungen werden das Gleichgewicht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative radikal verschieben und somit den Grundlagen der israelischen Demokratie und dem Ansehen des Staates Israel in den Augen seiner befreundeten demokratischen Staaten schwerwiegend schaden. Die Vereinigungen fordern die Regierung Israels auf, den Plan der Änderungen von Minister Levin nicht weiter zu verfolgen.“ Der volle Wortlaut kann unter www.dijv.de abgerufen werden.

DIJV und BRAK haben Mitte Februar anlässlich der Wintertagung der Tel Aviv Bar, der größten regionalen Anwaltskammer in Israel, mit der die Anwaltskammer Berlin einen Freundschafsvertrag geschlossen hat, eine Solidaritätsadresse überbracht. Die BRAK hat sich in zwei Ausgaben ihres Podcasts „(R)echt interessant!“ mit der Situation befasst. Diese können unter https://www.brak.de/newsroom/podcast/podcast-recht-interessant/ abgerufen werden.

Im April 2023 haben DIJV und BRAK eine Delegationsreise nach Israel organisiert, an der auch Bettina Limperg, die Präsidentin des Bundesgerichtshofs teilgenommen hat. Ziel war es, in zahlreichen Gesprächen mit Vertretern von Justiz, Anwaltschaft, Wirtschaft sowie Lehre und Forschung vor Ort einen Eindruck von der aktuellen Situation zu erhalten. Und auch, den Kolleginnen und Kollegen unsere Solidarität in ihrem Eintreten für einen demokratischen Rechtsstaat zum Ausdruck zu bringen.

 

Fazit:

Kein Teil der Judikative in Israel wird von diesen grundlegenden Umwälzungen verschont bleiben. Die Angriffe auf Richter- und Anwaltschaft sind offensichtlich von langer Hand und gut vorbereitet. Auch wenn manche Stimmen sagen, dass man derartige Gesetze wieder von der Knesset ändern lassen könnte, muss man sich nichts vormachen:

Allein mit der Änderung des Verfahrens zur Besetzung der Richterstellen wird der Regierung die Möglichkeit gegeben, im Zweifelfall eine dauerhafte „Gerichtsfestigkeit“ ihrer Entscheidungen herbeizuführen. Für Netanjahu würde dies etwa bedeuten, dass unter ihm als Premierminister seine Koalition Richter an den Gerichten ernennen könnte, die in der Berufungsinstanz in seinen Verfahren zuständig wären.

Die Bilder von der Demonstration von Unterstützern der Pläne der Regierung aus der letzten Aprilwoche, bei der Demonstranten über auf dem Boden ausgebreitete Portraits der amtierenden Präsidentin des SC Esther Hayuth und von Aharon Barak liefen, waren zutiefst verstörend.

Parallelen zu anderen Ländern drängen sich auf. Sie sind nicht zufällig. Der Rechtsstaat in Israel befindet sich in einer Krise ungeahnten Ausmaßes.

 

Kammerton 05-2023